Reflexionen über den Marxismus und das Konzept des „falschen Bewusstseins“

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des DDR-Regimes hat sich der Marxismus als im Wortsinn umzusetzende Leitideologie politischer Bestrebungen weitgehend verabschiedet. Die Mentalität jedoch, die ihn inspiriert hat, ist weiter am Werk. Sie hat den theoretischen Ballast abgeworfen bzw. die nachfolgenden Generationen haben ihn nicht mehr erworben, und nun erlebt sie eine  Neuinkarnation in Form eines überwiegend emotionsgetriebenen ökosozialistischen Aktivismus.

Der alte Marxismus war schwer theorielastig und versuchte, seine Autorität dadurch sicherzustellen, dass er sich als „wissenschaftlich“ ausgab und damit seinen interessengetriebenen Standpunkt zu verbergen suchte hinter der Kulisse objektiver Analyse und Erkenntnis. Zu dem Zweck lieferte er nicht nur ein „objektives“ Modell des historischen Entwicklungsgesetzes (Marx, Histomat), sondern darüber hinaus auch noch eine komplette metaphysische Lehre (Engels, Lenin: dialektischer Materialismus). Diese lieferte den Leitfaden zur Gesamtschau der Welt schlechthin.  Dazu bediente sie sich bei zeittypischen Trends des Historismus, Materialismus und Monismus von Autoren wie Darwin, Spencer und Haeckel. Entscheidend war hier wohl weniger der eher anspruchslose Inhalt der Anschauung, als das Vorhandensein einer solchen überhaupt. Die „wissenschaftliche“ Theorie der Gesellschaft und der Ökonomie bekam durch sie zur Absicherung ein zusätzliches weltanschauliches Fundament. Eine eigene Erkenntnistheorie (Lenin: Widerspiegelungstheorie) machte das weltanschauliche Gebäude weitgehend komplett und abgeschlossen.

Bis hierhin hat das Ganze noch den Charakter einer zwar schlichten aber gleichzeitig umfassenden Theorie, wie es durchaus mehrere gibt in der abendländischen Geistesgeschichte.

Marx brachte jedoch ein neues Konzept ins Spiel, das sich im Kampf um die Köpfe als außerordentlich wirksam erweisen würde, und das im linken Denken bis zum heutigen Tag eine zentrale Denk- und Argumentationsfigur darstellt. Man könnte es auch als einen miserablen, amoralischen Trick bezeichnen.

Die Rede ist von der Idee des „falschen Bewusstseins“. Marx ist vermutlich der erste, der das Bewusstsein anderer Menschen als ein Ganzes und wie von außen betrachtet. Es wird ihm zu einem Objekt, das mit einer mechanischen Funktionsweise ausgestattet („das Sein bestimmt das Bewusstsein“) und mit bestimmten Vorstellungen und Überzeugungen angefüllt ist. Die Funktionsweise erklärt dann im Zusammenhang mit den äußeren Gegebenheiten (Produktionsverhältnisse) das Verhalten der Menschen.

Das Neue daran ist – und die Bedeutung dieser Tat kann kaum überschätzt werden – dass das Bewusstsein anderer Mensch gleichsam als Objekt begriffen wird, welches äußeren Gesetzen unterworfen ist gleich den Gegenständen der Physik. In einem weiteren Denkschritt ist es auch der Manipulation nicht nur zugänglich, sondern sogar bedürftig. Spätestens bei Lenin tritt dieser Aspekt mit voller Wucht sowohl in Theorie und Praxis zutage. Hatte er doch die Bewusstseinszurichtung des Proletariats, welches nach seiner Einschätzung zu dumm war, das richtige Bewusstsein von selbst zu entwickeln, als Aufgabe der bolschewistischen Kaderpartei definiert.

Um sich über den darin manifestierten Paradigmenwechsels Klarheit zu verschaffen, sei daran erinnert, dass in der bis dahin üblichen Auffassung des Leib-Seele-Problems das Mentale stets als das grundsätzlich Andere zum Greifbaren, dem Mechanischen des Naturgegenstands, also der Materie, aufgefasst wurde: als Innerlichkeit ohne Außenseite. Diese Vergegenständlichung jedoch, so als hätte Bewusstsein doch eine Außenseite, welche es als Objekt begreifbar macht, ist das eigentlich Revolutionäre und stößt die Tür auf zu Betrachtungs- und Handlungsweisen, welche vorher nicht denkbar waren. Und diese Möglichkeiten wurden ergriffen.

Wie betrachtet man dementsprechend im Marxismus das als Dialektik begriffene gesellschaftliche Schauspiel? Etwa so:

Da ist das herrschende Bewusstsein der Bourgeoisen, also der Kapitalisten und Ausbeuter, und dessen Antithese, das Bewusstsein des unterworfenen Proletariats. Die Synthese entsteht gemäß der objektiven Mechanik der Geschichte durch Umsturz und Revolution und führt nach einer leider möglicherweise schrecklichen aber unvermeidlichen Zwischenstufe der Diktatur des Proletariats (aka „real existierender Sozialismus“) dereinst zum paradiesischen kommunistischen Bewusstsein. In diesem ist Arbeit wieder reine Selbstverwirklichung und erfüllter Lebenssinn, die Klassenstruktur der Gesellschaft ist aufgehoben, Ausbeutung hat ein Ende. Nun haben sowohl Marx, Engels als auch Lenin ausdrücklich (!) darauf verzichtet, die zukünftige kommunistische Gesellschaftsstruktur auszumalen, sondern wollten dies dem in den zu erwartenden Revolutionen hervortretenden Bewusstsein selbst überlassen.

Man erkennt auch hier die Objektifizierung des Bewusstseins fremder Individuen, sowohl in der „Analyse“ des bürgerlichen und des proletarischen Bewusstseins als auch im Zusammenhang der Zukunftsprojektion. Bewusstseine sind im marxistischen Denken gleich Gegenständen rekonstruierbar und vorhersagbar.

Zu dieser Betrachtungsweise gehört die Vorstellung, dass ein Bewusstsein, genommen als sein gesamter Inhalt und das darin repräsentierte Weltverhältnis, insgesamt „falsch“ sein kann. Und dies kann sogar die Mehrheit eines Volkes betreffen. Dies ist eine Neuerung, und die Blaupause für alle spätere linke Gesellschaftskritik, ob Frankfurter Schule, Foucaults Diskurstheorie, Feminismus und Gendertheorie usw.: Das Standardbewusstsein, das sich als naturwüchsiger Common Sense begreift, wird darin als falsches Bewusstsein entlarvt, das dekonstruiert werden kann und aufgehoben werden muss.

Schwache Geister aller Zeiten fallen auf diese Nummer stets wieder herein, zumal die entsprechende „Kritik“ stets an persönlichen Mißständen anknüpft (zu arm, zu wenig erfolgreich, minderbemittelt, etc.) und den vermeintlich Benachteiligten ins Recht  und die gesamte umgebende Gesellschaft ins Unrecht setzt.

Die möglichen sowie die tatsächlichen praktischen Folgen dieses Denkens sind weitreichend und dramatisch. Gegenüber einem Träger falschen Bewusstseins gelten nicht mehr die Diskursregeln der Aufklärung: Die gemeinsame Verpflichtung auf das rationale Argument und die gegenseitige Anerkennung der Logik und Vernunft. Vielmehr wird der andere zum Gegner, gegen den entweder Zwang (Indoktrination, Zwang, Umerziehung) oder physische Vernichtung nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten sind. Lenin hat dies nicht nur theoretisch formuliert, sondern auch praktisch umgesetzt. Er und Stalin haben die Träger des bourgeoisen Bewusstseins nicht mehr überzeugen wollen, sondern physisch eliminiert. Sie haben ihre Schergen von jeglichen moralischen Rücksichten gegenüber dem Klassenfeind, dem physischen Träger des falschen Bewusstseins, dispensiert.

Die ökonomischen  Irrtümer von Marx, die erkenntnistheoretischen und weltanschaulichen  Schlichtheiten, die klapprige Geschichtsmechanik sowie der infantile Utopismus lassen sich alle schon auf theoretischem Gebiet, mit nur wenig empirischem Unterstützungsbedarf, erfolgreich zurückweisen.

Die Auswirkungen des Konzepts eines objektifizierbaren fremden Bewusstseins, der Idee eines anderen Bewusstseins als einem „Ding“, und seiner Gesamtqualifikation als „falsch“ sind jedoch von ganz anderer Art. Die Folgen haben bereits in der Praxis alle Grenzen der Vorstellungskraft gesprengt. Es hat Formen der Entmenschlichung hervorgebracht, die in ihrem Ausmaß alles bislang auf Erden Praktizierte übertroffen haben.

Das Konzept selbst ist von einer ungeheuerlichen Überheblichkeit. Zweifellos inspiriert von der Hegelschen Dialektik der Bewusstseinsentwicklung steht der marxistisch Erleuchtete auf dem Standpunkt einer überhistorischen Objektivität, der nicht nur das Denken und Wandeln seiner Zeitgenossen in ihrer jeweiligen „Falschheit“, gemessen an der für den Menschen vorgesehenen perfekten Gesellschaft, erkennt. Vielmehr ist er auch berechtigt und aufgefordert, korrigierend einzugreifen, notfalls jenseits von Recht und Gesetz, denn diese  sichern ja nur die Schutzräume eines falschen, leider noch herrschenden Bewusstseins.

In der historischen, politischen Realität ist die Menschheit diese Pest zu einem viel zu hohen Preis wieder losgeworden, aber das Gift der genannten Denkfigur: der Idee eines gesellschaftlich verankerten falschen Bewusstseins bei den anderen ist nach wie vor am Werk in sämtlichen linken Mentalitäten. Nicht nur der immer noch lebendige Antikapitalismus speist sich aus ihm, auch all die humanitären linken Posen wie Antirassismus, Wokeismus, Kampf gegen Rechts, Genderismus, und so weiter. Richtige Gesinnung gegen falsche Gesinnung. Derjenige mit der falschen bekommt sofort ein Ganzkörperetikett und wird zum Abschuss freigegeben. Die Wahrheit ist nicht verhandelbar.

Es hier ein ganz neuer Denk- und Kritiktypus entstanden, der statt mit Argument und an der Erfahrung gestählter Vernunft mit dem Bewusstsein der  höheren Warte, der übergeordneten Moral und der das System übersteigenden Vision wahrer Menschlichkeit und Gerechtigkeit antritt. Die Parallelen mit dem religiös Erleuchteten sind unverkennbar.

Dieses Gift gilt es in den Erben und Sprößlingen des Marxismus zu erkennen und zu bekämpfen.


Kommentare

Eine Antwort zu „Reflexionen über den Marxismus und das Konzept des „falschen Bewusstseins““

  1. Mein lieber Scholli! Das ist aber eine scharfe Kritik an marxistisch beeinflussten Ideologien und linken Denkmustern, dass sie mit dem Konzept eines „falschen Bewusstseins“ operieren. Du wirfst diesen Strömungen vor, sich einer absoluten moralischen Überlegenheit zu bedienen, die keinen Diskurs zulässt, sondern Andersdenkende pauschal diffamiert und ausgrenzt.

    Ideologische Geschlossenheit vs. Pluralismus:

    Du kritisiert zu Recht die Gefahr dogmatischer Denkmuster, die keine alternative Perspektive gelten lassen. Allerdings könnte man einwenden, dass nicht alle linken Bewegungen so undifferenziert agieren – viele setzen durchaus auf Dialog und empirische Argumentation.

    „Falsches Bewusstsein“ als Kampfbegriff

    Die Marx’sche Idee des „falschen Bewusstseins“ wird hier als intellektuelle Waffe gedeutet, die Debatten im Vorhinein erstickt. Das ist ein berechtigter Einwand gegen moralisierende Politik, die Gegner pauschal als unmündig oder böswillig abstempelt. Gleichzeitig lässt sich fragen: Gibt es nicht auch berechtigte Gesellschaftskritik, die strukturelle Verblendungen (z. B. durch Rassismus oder Kapitalismus) analysiert?

    Religiöse Züge moderner Ideologien

    Der Vergleich mit religiösem Eifer ist interessant – tatsächlich weisen manche woke oder antikapitalistische Strömungen quasi-messianische Züge auf (Kampf Gut vs. Böse, „Erleuchtete“ vs. „Unwissende“). Aber gilt das nicht auch für andere radikale Ideologien (z. B. rechte Verschwörungsmythen)?

    Überspitzung und Generalisierung

    Die pauschale Verurteilung aller linken Positionen als „Gift“ wirkt ihrerseits undifferenziert. Nicht jeder Antirassismus oder Feminismus ist dogmatisch – viele Ansätze basieren auf konkreter Ungerechtigkeitserfahrung.

    Der Text liefert eine provokante, teils polemische, aber diskussionswürdige Analyse ideologischer Rigidität. Die Kritik an moralischer Selbstüberhöhung und Denkverboten ist nachvollziehbar, aber die Generalisierung aller linken Strömungen als irrational schwächt die Argumentation. Eine produktive Auseinandersetzung würde differenzieren: Wo wird Gesellschaftskritik zu einer neuen Orthodoxie – und wo bleibt sie notwendig?

    Ironische Parallele:

    Du bekämpfst eine vermeintlich „absolute Wahrheit“ der Linken – stellst aber deinerseits eine Gegen-Wahrheit ohne Nuancen auf.

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