So mancher hat sich schon gefragt, warum es seit einigen Jahrzehnten keine großen Philosophen mehr gibt. Nun wird zwar beim Ausdruck „großer Philosoph“ keine Einigkeit herrschen, wer alles darunter fällt, aber dennoch zumindest eine tendenzielle. Mir selbst ist derzeit auch kein großer Philosoph bekannt.
Hier ist die These:
Wenn wir die Geschichte in Graden der kulturellen Höhe oder Blüte messen, dann sind Philosophen so etwas wie Seismographen keimenden Bewusstseinswandels. Sie tauchen zuverlässig am Beginn einer Epoche auf, in der sich ein neues Bewusstsein entfaltet. Ich nenne fünf solcher epochalen Schritte: Erstens die Vorsokratik, als die Philosophie aus der Taufe gehoben wurde, als die Rationalität umfassend den Mythos zu ersetzen begann. Dann die klassische Antike mit Sokrates, Platon, Aristoteles sowie den Lehren der Stoa und des Epikur. Die späteren Römer waren zur Philosophie nicht begabt, sie hatten andere Talente, und Ciceros Versuche, den Römern die Philosophie beizubringen, waren nicht sehr erfolgreich. Auf einen Sonderfall kommen wir gleich noch zu sprechen.
Die nächste kulturelle Blüte setzte ein ab dem 11. Jhd, mit der Entstehung der Städte, der Entwicklung des Handels und der Gewerke, der Entstehung der Kathedralschulen und der Universitäten, das mittelalterliche Denken, die Scholastik, entfaltete ihre volle Blüte und in den neu entstehenden Orden arbeiteten hochgradig scharfsinnige und kreative Denker. Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, William von Ockham, Nikolaus von Kues. Diese versuchten sich unter anderem daran, eine kristallklare Rationalität und die Offenbarung in ein geschlossenes System zusammenzuführen.
Mit der Renaissance, die unterschiedliche Startzeiten in den Ländern des europäischen Westens hat, kam es zu einem gewaltigen Umschwung des Bewusstseins und vor allem auch des Selbstbewusstseins. Die neue Epoche war dadurch gekennzeichnet, dass sie die Autorität der Kirchenväter und der Offenbarung beiseitelegte, und sich stattdessen auf den menschlichen Verstand berief. Wissenschaft statt Autorität. Das war ein Grundgedanke der Neuzeit, die bereits den Wesenskern des Materialismus in sich trug. Im Materialismus liegt ein großes Versprechen: Die totale Beherrschung der physischen Wirklichkeit. Diese Mentalität als erste erfasst, wenn nicht sogar entscheidend losgetreten haben Denker wie Descartes, Hobbes oder Bacon. Es schloss sich eine reiche Geschichte der Entfaltung der Wissenschaft und des säkularen Nachdenkens über Ethik und Politik an.
Einen nächsten, den fünften Schub erfuhr unsere Kultur in der Aufklärung. Man kann sie als so etwas wie die zweite Zündstufe der Säkularisierung und des Materialismus der Neuzeit betrachten. Die unangefochtene Autorität von Krone und Altar wurde final zerstört. Auch hier tauchten eine Reihe großer Philosophen auf, die sich in das unbekannte Terrain, das vor ihnen lag, hineintasteten. Was im 19j. Jhd. folgte, war eine Blüte der Wissenschaft und der technischen Entwicklungen. Am gleichzeitigen Verfall der Künste aller Kategorien allerdings lässt sich ablesen, dass die kulturelle Kurve schon nach unten zeigte. Trotz der wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften verengte sich das Bewusstsein immer mehr. Philosophie gewinnt zunehmend den Charakter von „Kritik“ (nicht im Kantischen Sinne, sondern im feindlichen). Anstatt den Himmel aufzureißen und neue Perspektiven zu eröffnen wie Bacon oder Descartes es erstrebten, verlegt man sich darauf, auf das Elend unserer geistigen Situation zu verweisen und das System anzugreifen. Bereits die Pessimisten Nietzsche und Schopenhauer haben in diesem Sinne gewirkt, umso mehr die Denker des Existenzialismus, der Kritischen Theorie oder die Theoretiker der Postmoderne.
Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass mir der tragende Geist der Moderne, also das 20. Jhd., immer noch unverständlich ist. Obwohl es die einzige Zeit ist, in der ich gelebt habe, fremdle ich damit. Ich kann die Ideen intellektuell nachvollziehen von Bauhaus, von abstrakter Malerei, von Konzeptkunst, von atonaler Musik etc. Aber mein Herz kann es nicht. Das 20. Jhd. ist eine Epoche der Widersprüche. Die brillanten Leistungen der Quanten- und der Relativitätstheorie, in deren Zusammenhang sich die engagierten Physiker auch zum Teil als handfeste Philosophen erwiesen haben, die enormen Fortschritte der Technologie wie Mondfahrt, Computer und Smartphone, steht im Kontrast zu einem kulturellen Niedergang und einer ästhetischen Verwahrlosung, die keinen Vergleich hat. Hier ist kein Nährboden für große Philosophie. Große Philosophie braucht eine Aufbruchsstimmung, sie ist ein Abenteuer im Betreten des Unbekannten, sie ist getragen von Zuversicht, und all das ist derzeit auf desaströste Weise abwesend.
Große Philosophie ist nicht das Aussprechen „der Wahrheit“ als solcher, sondern sie formuliert in kristalliner Schärfe den leitenden Bewusstseinszustand ihrer Zeit. Diese Zustände ändern sich, und niemand entflieht dieser Änderung. Die großen Philosophen tauchen dabei zuverlässig ganz zu Anfang großer kulturell-mentaler Umwälzungen auf.
Und jetzt noch zu dem Sonderfall: Augustinus
Dieser geniale Römer war christlicher Theologe und Philosoph in Personalunion. Er schuf ein überaus einflussreiches Werk, welches das Denken des Mittelalters beherrschte bis zu Thomas. Warum ich ihn als Sonderfall betrachte, liegt daran, dass man, mich eingeschlossen, den Beginn des Mittelalters als den Abschluss einer Epoche der hohen Kultur, der Antike, auffasst, und danach kommt erst einmal lange Zeit wenig bis nichts. Vielleicht tun wir dem Geist der Zeit aber auch Unrecht, also etwa der Zeit vom 6. bis zum 11. Jhd., aber das ist ein anderes Thema.
Jedenfalls war aus der Sicht der Christenheit diese Epoche auch eine Zeit des Aufbruchs und hat in Augustinus ihre geistige Leitfigur gehabt.
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