Seneca war der Auffassung, dass die Allgemeinheit mit der Ausrichtung ihrer Ziele, ihren Bestrebungen und Bewertungen komplett in die Irre geht. Und dass dies nicht nur für die große Menge gilt, sondern auch für jeden einzelnen. Menschen bedürfen nach Seneca der Anleitung, sich vom üblichen Schwachsinn abzuwenden und Denken und Handeln auf das auszurichten, was uns wirklich befreit von Ängsten und falschen Begehrlichkeiten. Das ist es, was sie als Tugend bezeichneten.
Noch drei Anmerkungen dazu:
Erstens:
Die Menschen der Antike waren in weit höherem Maße Bedrohungen ausgesetzt, als wir im modernen Westen es heute sind. Es gab keine reguläre Polizei, die Medizin war noch schwach und Schmerzmittel oder Betäubung waren unbekannt, mit jedem Regierungswechsel konnte ein wohlhabender Mann auf eine Proskriptionsliste kommen, d.h. für vogelfrei erklärt werden, wie es z.B. Cicero widerfuhr.
Zweitens:
Nach meiner Ansicht ist die Ausrichtung der stoischen Philosophie voller Männlichkeit und Tapferkeit, schießt aber vielleicht in ihrem Absolutheitsanspruch zuweilen über das Ziel hinaus. Ich persönlich halte diese Ethik für hochgradig tauglich in der Anwendung auf das Alltagsleben, bis hin zu kleineren und mittleren Katastrophen. Aber es wird fraglich, ob die stoischen Prinzipien noch tragfähig und anwendbar sind in Fällen von Lebenskatastrophen wie der Tod des eigenen Kindes und dergleichen.
Drittens:
Die stoische Philosophie ist verknüpft mit dem Konzept des Schicksals, des unabänderlichen Verhängnisses (heimarmene), welches in einer für uns Heutige schwer nachvollziehbaren Kombination aus physischer Notwendigkeit, göttlichem Willen und Weltgesetz besteht. Das stoische Bestreben, sich dem Schicksal zu fügen („der Natur gemäß zu leben“) basiert auf dieser Überzeugung. Innerhalb eines Weltverständnisses jedoch, in dem die Widerfahrnisse als reine Zufallsereignisse interpretiert werden, erscheinen die Tugenden der Stoiker vielleicht nur im Licht der tapferen Pose oder gar als Unsinn.
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