Philosophische Ethik – also die Theorie der Moral – versucht, den Bereich des Moralischen theoretisch nachzuvollziehen, also den rationalen Kern aufzuspüren, nach dem Moral tatsächlich funktioniert oder funktionieren sollte.
Dabei gibt es einen ganzen Strauß von Typen von Moralphilosophie, wie jeder gleich erfährt, der sich mit der Thematik befasst. In jedem Typus wird mehr oder weniger ein bestimmter Aspekt des Moralischen hervorgehoben und zum leitenden Prinzip erklärt.
Verbreitet waren und sind folgende Typen, aber es gibt noch etliche weitere:
- Tugendethik. Der Standardtypus der Antike von Sokrates, Platon, Aristoteles, Stoa und Epikur. Die richtige innere Haltung, garantiert durch gutes Naturell, gute Erziehung, Gewöhnung und Disziplin schafft ein Höchstmaß an persönlicher Zufriedenheit und sichert das Gelingen der staatlichen Gemeinschaft.
- Deontologie – Pflichtethik. In diesem Ansatz liegt die Betonung darauf, was wir unbedingt sollen bzw. nicht dürfen. Ohne Zweifel verfügen Menschen, die in einer gesunden, zivilisierten Umgebung aufgewachsen sind, über ein inneres Organ namens Gewissen, das uns von bestimmten Taten abhält bzw. uns zu bestimmten Taten zwingt, auch wenn diese nicht zu unserem eigenen Vorteil geschehen. Die Ethik von Kant verkörpert diesen Ansatz am reinsten.
- Wertethik. Hier fokussiert die Theorie auf die Aufrechterhaltung und Verteidigung von Werten, die als objektive Gegebenheiten aufgefasst werden. Freiheit, Sicherheit, Familie sind Beispiele dafür.
- Naturrecht. Der Hauptvertreter ist Thomas von Aquin. Hier ist der Mensch aufgefasst als Teil einer gottgegebenen Schöpfungsordnung, damit ist die Natur und der gesamte Kosmos gemeint, in die er sich in seinem Handeln einzufügen hat. Seine Vernunft setzt ihn instand, das je Richtige erkennen zu können und sein gottgegebenes Gewissen verpflichtet ihn darauf.
- Kontraktualismus. Hier handelt es sich mehr um ein Gedankenspiel. Vertreter sind Hobbes, Locke, Rousseau und Rawls. Es geht um die Frage, wie die gesellschaftlichen Regeln zu rechtfertigen sind, die doch allen die Freiheit einschränken und wie diese möglichst gerecht eingerichtet werden können.
- Utilitarismus. Dieser Ansatz stellt den Nutzencharakter moralischer Entscheidungen für die Steigerung der Glückssumme auf der Welt in den Vordergrund. Intrinsische logische Probleme haben dazu geführt, dass sich dieser Ansatz in eine Vielzahl von Varianten aufgespalten hat.
- Als letztes sei hier noch erwähnt der empiristische Ansatz, welcher auf David Hume zurückgeht. Demnach ist der moralische Sinn nur erworben als Reaktion auf die Erfahrung dessen, was von der Gemeinschaft als willkommenes Verhalten angesehen wird.
Man kann diese Ansätze nach verschiedenen Kriterien nochmals gruppieren. Ich will hier nur folgende Unterscheidung machen: Diejenigen, die beanspruchen, sich auf eine objektive Wahrheit zu beziehen – das sind die ersten vier – und diejenigen, die rein pragmatisch vorgehen, das sind die übrigen drei.
Dass schon in dieser Sache keine Übereinstimmung herrscht, charakterisiert die Situation der Moralphilosophie. Wir können weder den Unbedingtheitsanspruch ethischer Forderungen zurückweisen, aber gleichzeitig ist uns bewusst, dass diese Forderungen außerhalb der menschlichen Sphäre, also in der Natur oder im Universum, nicht existieren. Versuche, eine Letztbegründung der Moral zu liefern, sprich, sie auf einem unerschütterlichen Boden zu verankern, scheitern zwangsläufig.
Alle oben genannten Ansätze knüpfen an Intuitionen an, über die wir als zivilisierte Menschen verfügen: Die Überzeugung, dass es Dinge gibt, die wir nicht tun dürfen, auch wenn wir einen Vorteil davon hätten, die Überzeugung, dass richtiges Verhalten zuweilen Selbstüberwindung kostet, die Überzeugung, dass bestimmte Konzepte und Institutionen unbedingt wert sind, verteidigt zu werden, die Intuition, dass bestimmte Handlungen definitiv falsch sind und dass unsere moralischen Entscheidungen dennoch gleichzeitig so etwas sind wie ein Arrangement zwischen uns Menschen.
Wir sind immer schon und unentrinnbar eingebunden in eine Wahrnehmung der Welt, in der das Sein und das Sollen unentwirrbar miteinander verwoben sind. Eine Welt des rein Faktischen ist eine für die menschliche Wahrnehmung nicht erreichbare, rein abstrakte Konstruktion.
Auf David Hume geht der bekannte Satz zurück, dass sich aus dem Sein kein Sollen ableiten lassen könne. Das bedeutet, es gibt auf der Basis reiner Faktizität keinen logischen Übergang zu einer Pflicht, zu einem Richtig oder Falsch. Das ist logisch vielleicht korrekt, hat nur den Haken, dass wir nie in einer Welt der reinen Faktizität existieren.
Hume und viele andere mit ihm glauben, dass da erst die faktische Welt ist, und dann kommt das Moralische, die Bewertung oben drauf. Nein, so ist es nicht. Beides ist in uns immer gleichzeitig da. Zwar haben wir das Abstraktionsvermögen, beides voneinander zu trennen, wenn wir einen Einzelfall betrachten, aber schon unsere Sprache ist so stark durchsetzt von normativen Konzepten, dass wir es gar nicht bemerken und einfach für ein Abbild faktischer Realität halten. Es ist eine abstrakte, konzeptuelle Trennung post hoc. Wenn jemand sagt: Dieses Haus ist verfallen, dann steckt darin ein Bezug zu einer Normativität, nämlich wie das Haus sein SOLLTE.
Die Versuche der Philosophie, die Wirklichkeit rein faktisch zum Gebrauch der Wissenschaft ohne den Einsatz von Erwartungen zu beschreiben, sind gescheitert. Ein Begriff wie „zerbrechlich“ illustriert das. Ich weiß nicht, wie die Logik das handhabt. „Zerbrechlich“ ist für uns eine Eigenschaft eines Materials. Allerdings nur eine potentielle. Eine Sicht auf die Welt, die nur Faktizität zulässt, scheitert hier in ihren Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben.
Ebenso wenig, wie wir von unseren Erwartungen (unser Verhältnis zu Potentialität) Abstand nehmen können und wollen, nehmen wir Abstand von unseren Bewertungen. Gewiss gibt es Fälle, in denen darüber diskutiert wird. Aber in den meisten Fällen nicht. Dass zum Beispiel im Wort „kaputt“ eine Norm transportiert wird, ist kaum jemandem bewusst.
Was tut also die Moralphilosophie? Die Versuche, das letzte Prinzip der Moral aufzuspüren und rational zu verankern, sind nicht erfolgreich gewesen. Was man geschafft hat, ist, den ganzen Bereich zu durchdenken und dem Verstand transparent zu machen, nicht zuletzt mit dem Erfolg, Scharlatanen nicht auf den Leim zu gehen, die, ideologisch inspiriert, neue Formeln und Standards aus dem Hut zaubern.
Philosophie ist immer die gedankliche Bewegung in einem schwebenden Netz, dem Raum unseres Bewusstseins in einem Meer des Unbekannten. Dessen sollte sich der Philosoph immer bewusst sein.
Eine Anmerkung noch der Vollständigkeit halber:
Neben der säkularen, philosophischen oder nur bürgerlichen Ethik gibt es auch noch religiös fundierte Ethiken. Diese rechtfertigen sich durch Offenbarung oder durch unantastbare Einsichten von Weisen.
Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Das Gebot der Nächstenliebe ist KEINE Pflicht der allgemeinen Moral. Es ist eine religiöse Forderung, die im Zusammenhang steht mit Konzepten wie Reich Gottes, Gnade, Erlösung und Auferstehung. Das sind alles mythologische Konzepte, zu denen man sich erst persönlich und freiwillig bekennen muss.
Keinesfalls darf ein Politiker mit Begriffen wie Christenpflicht und Nächstenliebe hantieren. Wer das tut, belegt nur seine Ignoranz darüber, womit er es zu tun hat.
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