Vor einem Jahr ist Francoise Gilot im Alter von 101 Jahren gestorben, die eine erstaunliche Frau gewesen sein muss. Sie kam mit Anfang 20 mit dem damals schon über 60-jährigen Picasso zusammen, gebar zwei Kinder und sie blieben 10 Jahre zusammen.
Einen eigenen Namen hat sie sich später damit gemacht, dass sie ein Buch über die gemeinsame Zeit mit Picasso geschrieben hat. Sie gilt als die einzige Frau, die es geschafft hat, sich dem Bann dieses Mannes aus eigener Kraft zu entziehen. Sie war selbst Künstlerin und hat es dabei mit Bildern, die seltsamerweise ziemlich picassohaft aussehen, zu ordentlichem Erfolg gebracht.
Ihr Buch habe ich nicht gelesen und habe es auch nicht vor. Daher kann ich nicht beurteilen, ob oder inwieweit Gilot mit der feministischen Kampagne zu tun hat, Picasso vom Sockel zu zerren. Seit längerem ist von Picasso nur noch die Rede in dem Zusammenhang, dass er ein übler Macho gewesen sei, der seine Frauen emotional ausgesaugt hat. Dass er sich dabei vielleicht nur wie ein ganz normaler Spanier seiner Generation verhalten hat, kommt nicht mehr in Betracht.
Die Dekonstruktion der Legende Picasso ist dabei nur ein weiterer Fall einer bestimmten links-woke-feministischen Mentalität, die die Existenz und Verehrung großer historischer Männer nicht erträgt und zu Fall bringen will. Dabei legt man eine Art Maßstab an sie an, der schon den Namen „Präsentismus“ erhalten hat. Der vollkommen geschichtsignorante woke Klüngel zieht dabei die gesamte Weltgeschichte über seinen eigenen erbärmlichen moralischen Leisten.
Herablassung gegenüber Frauen, Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus oder Unterstellung eines solchen – das sind die Todsünden, die mit Canceln und dem Niederreißen der Denkmäler geahndet werden müssen. Mord am eigenen Volk in millionenfacher Höhe wie bei Stalin oder Mao dagegen ist das nicht. Auch der leidenschaftliche Antisemit Marx bleibt von Vorwürfen ausgenommen.
Gecancelt werden zum Beispiel Aristoteles, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche (Herablassung gegenüber Frauen), Luther (Antisemitismus), Bismarck (Nationalismus), Kant (Rassismus), um nur ganz wenige zu nennen. Am meisten stört dieses Milieu natürlich, dass da keine Frauen oder „People of Color“ auf den Podesten stehen. Das schürt Ressentiment und Neid. Und die Vorzeigemadame Marie Curie wird die nächsten 1000 Jahre in einem Bleisarg verbringen müssen, weil ihr Körper derartig verstrahlt ist.
Zurück zu Picasso. Der war weiß Gott der mit Abstand größte Künstler seiner Generation und danach. Er war für das 20. Jhd. das, was Michelangelo und Rubens jeweils in ihrer Epoche gewesen sind. Ohne Zweifel ein außerordentlich eitler und selbstfixierter Mann, war er dennoch ein Vulkan an Energie und Kreativität. Er war noch ausgebildet in der klassischen Malerei der 19. Jhd., die er sehr schnell beherrschte. Seine überlieferten Arbeiten aus seiner Zeit an der Akademie in Barcelona sind noch Gesellenstücke, aber er hätte nur wenige Jahre gebraucht, um hierin volle Meisterschaft zu entwickeln.
Tatsächlich spürte er allerdings, dass die Zeit für diese Malerei abgelaufen war, legte sie trotz seiner Meisterschaft beiseite und begab sich auf eine Reise ins Unbekannte, was unter der Berücksichtigung seiner Lebensumstände durchaus als mutig zu bezeichnen ist.
Der Wendepunkt war wohl das Werk „Les Demoiselles d’Avignon“, das er als 26-Jähriger fertigstellte. Über 800 Vorstudien existieren dazu. Das belegt, wie ernst es ihm mit dem Projekt war, und dass es sich mit dem Bild um eine Revolution handeln würde.
Seine Künstlerfreunde haben das Bild unmittelbar abgelehnt, es war für sie unverständlich. Aus meiner Sicht, 115 Jahre später, hat Picasso folgendes gemacht:
Er hat die Gegenstandebene des Bildes aufgelöst in ein bloßes Geflecht von Linien und Strukturen, für das die Körper der Damen nur der Anlass sind. Die Absicht der Illusion ist aufgehoben. Nur noch Zitate von körperlichen Konturen, die allerdings erkennen lassen, in welcher Meisterschaft Picasso sie beherrscht. In der Komposition – und das macht Picasso einzigartig im gesamten 20. Jhd. – behält er die Prinzipien der klassischen Malerei bei, weil er über sie verfügt. Das unterscheidet ihn etwa von seinem Zeitgenossen Matisse, oder von Kandinsky, Chagall und Miró, deren Bildstrukturen entweder kaum vorhanden, vollkommen konventionell oder völlig verkopft sind. Picasso dagegen war Maler.
Das ist Picassos Prinzip geblieben: Aus der Gegenstandswelt Dinge zu entnehmen – Musikinstrumente oder Frauen – und diese zum Ausgangspunkt nehmen für semiabstrakte Arrangements nach den Regeln der klassischen Kunst. Seine ästhetische Entscheidungskraft, die Eleganz und Dynamik seiner Linien steht weit über allem, was seine fummelnden Zeitgenossen hervorbrachten. Ich denke, nicht wenige haben ihn dafür gehasst. Denn er zeigte ihnen ihre Grenzen bis an den Rand der Beschämung.
Damit sind wir wieder beim Thema: Große weiße Männer müssen runter vom Sockel! Der „letzte Mensch“ (Nietzsche) erträgt es nicht, wenn jemand größer ist, ein Genie gar. Da werden die kleinlichsten Anlässe genommen, um das Lebenswerk eines großen Mannes zu annullieren und ins Vergessen zu schicken.
Es ist vollkommen egal, was ein Mensch, der Großes geleistet hat, für einen Charakter oder für ein Privatleben hatte. Es interessiert nicht, ob ein stinkreicher Michael Schumacher geizig war oder ein Cristiano Ronaldo eitel. Es ist egal, ob Maradona Kontakte zum halbseidenen Milieu hatte oder Charlie Chaplin ein schlechter Familienvater. Und jeder, der Picasso nur danach beurteilt, wie er seine Frauen behandelt haben soll, und dabei unfähig ist, sein Werk zu würdigen, ist genau das, was Nietzsche abgrundtief verachtete: ein „letzter Mensch“.
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