Die Kultur des Nichtwissens

Die Neuzeit ist geprägt von einem bestimmten Optimismus, die Welt entschlüsseln zu können auf der Basis der Annahme, dass zuletzt alles aus der Physik erwächst. Das ist das grobe und vereinfachte Grundmotiv im Mainstream des neuzeitlichen Denkens. Der Name dafür ist Materialismus.

Mit dem Epochenumbruch vom Mittelalter zur Neuzeit fand ein Paradigmenwechsel statt. Das mittelalterliche Denken, in dem die zu philosophischen Systemen ausgebaute biblische Offenbarung die oberste Orientierungsgröße gewesen war, wurde abgelöst durch eine Vermutung der mathematischen Berechenbarkeit und technischen Beherrschbarkeit der Welt als Schlüssel zu ihrer totalen Durchdringung.

Diese Durchdringung sollte auch den Menschen sich selbst durchsichtig machen: Seine Entstehung aufklären, das Bewusstsein aus den chemischen Prozessen des Gehirns verstehen, das Erbgut für jede beliebige Manipulation verfügbar machen, seine religiösen Bedürfnisse (weg)interpretieren und noch etliches andere.

Trotz erstaunlicher Leistungen im technischen Bereich ist es mit der Aufklärung über den Menschen selbst nicht sehr weit gekommen. Psychologie, Soziologie, Evolutionsbiologie und dergleichen sind eher Spielwiesen für ideologische Anliegen als ernstzunehmende Wissenschaften mit Ergebnissen.

Der Materialismus hat immer von Zukunftsversprechen gelebt, und davon ist auch einiges eingetreten: Mit der Erfindung des Kunstdüngers wurden die Hungersnöte beendet, die Virologie war der vielleicht größte Fortschritt der Medizingeschichte, der Motor, die Elektrizität, der Computer – die Revolutionen waren gigantisch.

Was die Erkenntnis unserer selbst betrifft, so ist das Ergebnis jedoch mager bis nicht vorhanden. Seit der Ilias haben wir über uns Menschen so gut wie nichts Substantielles hinzugelernt. Jeder von uns steht immer noch so blöd im Dasein, umgeben von Dingen, die er nicht versteht wie eh und je.

Nach 500 Jahren erweist sich der Materialismus als untaugliches Instrument, uns selbst und die uns umgebende Welt im Großen und Ganzen – die Natur, die Gesellschaft, Tod und Transzendenz – zu verstehen.

Man kann an dieser Stelle einfach weitermachen und versprechen bzw. sich einreden: Ja, wir werden das noch alles mit den Mitteln des Materialismus erkennen.

Oder aber, wir ziehen einen Strich drunter und bilanzieren: Ok, der Materialismus hat sich erwiesen als ein brauchbares mentales Set für technische Belange. Aber er bringt nix, wenn wir uns über uns selbst Fragen stellten oder über die Welt insgesamt.

Das sture Beharren auf der metaphysischen Wahrheit des Materialismus wird langsam schal. Die evolutionsbiologischen Erklärungen erscheinen lächerlich. Die Behauptungen der Hirnforschung zur Entstehung von Bewusstsein wirken kindisch und hilflos. Die Vorstellungen der Ingenieure von künstlichem Leben oder künstlichem Bewusstsein wirken präpotent und pennälerhaft. Und so geht es weiter.

Wir haben also nicht nur das ewige Versprechen des Materialismus im Zustand der Aufbruchsstimmung, sondern können längst auch Rückschau halten auf die Ergebnisse, auf das Scheitern diverser Versprechen und können Wände erkennen, gegen die das materialistische Denken vergeblich anrennt. Man muss es natürlich auch sehen wollen!

Ein sehr zuverlässiges Eichmaß scheint mir die antike Literatur zu sein: Haben wir nicht das Gefühl, zu 100% uns selbst wiedergespiegelt zu sehen, wenn wir Juvenal, Ovid, Tacitus oder Petronius lesen? Oder ist da etwas von einem Gefühl wie: Oh, die wussten aber wenig über sich. Da sind wir jetzt weiter. Wirklich? Nein, der materialistische Ansatz hat das Wissen über uns selbst nicht vermehrt. Er hat alle möglichen Blüten hervorgetrieben, denen stets nur eine überschaubare Lebensdauer beschieden war wie die Psychoanalyse, den Existentialismus, die französische Philosophie des letzten Jhd., Sozialismus und Faschismus auf der politischen Bühne und alle möglichen psychologischen und pädagogischen Moden und was es sonst noch so an abstrusen Auswürfen gibt.

Die beste Antwort darauf scheint mir das offensive Bekenntnis zum Nichtwissen zu sein. Alles muss ausgeräumt werden, was innerhalb der materialistischen Denkweise nur materialistische Interpretation ist, ohne sich empirisch ausweisen zu können. Das betrifft alle Wissenschaften und Kenntnisse, wie Medizin, Biologie (speziell auch die Evolutionsbiologie), Astrophysik, Psychologie, Pädagogik, Hirnforschung, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften und so weiter. An die Stelle der materialistischen Anmaßungen, welche in vielen Bereichen erst noch zu identifizieren wären, tritt ein emphatisches Verwerfen derselben als falsch, und ein Bekenntnis zum Nichtwissen, zum ignoramus.

Das Bekenntnis zum Nichtwissen nimmt die ideologischen Schranken, die der Materialismus errichtet hat, wieder weg und eröffnet den freien Blick. Nichtwissen ist keine Schande, kein Versagen der Wissenschaft oder der Fachwelt, sondern conditio humana.

Nichtwissen ist hier natürlich zu verstehen als die aufgeklärte Einsicht über die Grenze dessen, was verstanden und bislang verstehbar ist, nicht die dröge Ignoranz derer, die ohnehin nicht am Wissen interessiert sind.

Dann sorgt das Bekenntnis zu ihm für intellektuelle Freiheit, frische Wahrnehmungsfähigkeit und Beweglichkeit, die im materialistischen Korsett erstickt werden.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert