Natur vs. Kultur

In der Philosophie gibt es eine stiefmütterlich behandelte Abteilung namens Naturphilosophie. Eigentlich sollte sie ein zentrales Fach der Philosophie sein, ist es aber nicht. Die wenigsten Philosophen schenken dem Thema Beachtung. Man muss – von wenigen Ausnahmen abgesehen – schon zu den Vorsokratikern zurückkehren, um auf originäre Naturphilosophie zu stoßen. Platon war überwiegend politisch, Aristoteles war ein hervorragender Beobachter, aber in seinem Denken betrachtete er das Verhältnis von Kultur und Natur als ein Kontinuum, und benutzte immer wieder Beispiele aus der einen Sphäre, um das andere zu illustrieren. Das war überhaupt die griechische Perspektive. Die Stoiker forderten ein Leben, das den Gesetzen der Natur folgen sollte, und auch sie dachten, dass die gute Gesellschaft gleichsam den Naturgesetzen folgt, während die Gesetze der Natur (die Physis) da draußen für sie abstrakt und letzten Endes fremd blieben.

Bald darauf folgte das Christentum, in welchem die Natur kein Subjekt ist, sondern Geschöpf und Gegenstand der Herrschaft, die von Gott gestiftet und dem Menschen anvertraut ist. Dieser Herrschaftsgedanke hat sich fortgesetzt in der Neuzeit, in welcher die Natur vom Geschöpf zum Nutzen des Menschen umdefiniert wurde zu einem blinden Mechanismus, welcher vom menschlichen Verstand entschlüsselt und seinen Wünschen gemäß manipuliert werden kann, und zwar ohne Beschränkungen durch eigenen Wert, eigene Absicht oder eigene Würde. Das ist das geltende Paradigma bis zum heutigen Tag.

Viele Philosophen haben es geahnt, aber nicht thematisiert. Als scheuten sie das Thema: Diese seltsame Inkompatibilität unserer sogenannten Kultur mit der Natur. Es geht schon los mit unserer merkwürdigen, völligen Hilflosigkeit in der Natur. Um in der Natur am Leben bleiben zu können, braucht ein moderner Mensch die ausgefeiltesten Schulungen, Geräte, Techniken. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das (in seiner heutigen Verfassung) auf sich selbst gestellt in der Natur nicht überleben kann.

Über das Verhältnis von Natur und Kultur herrscht in der Philosophie, der Soziologie und der Anthropologie keine Einigkeit. Ist Kultur nur ein Unterfall von Natur? Ist Kultur aus der Natur erwachsen? Sind Natur und Kultur Gegensätze? Ist Natur das Andere gegenüber der menschlichen Sphäre? Woher die Fremdheit des Menschen gegenüber der Natur?

Es gibt die Sichtweise, dass der Mensch mitsamt der Kultur Gegenstand eines naturwissenschaftlich (=materialistisch) interpretierten Universums ist. Die Wissenschaft umfasst in dieser Sicht alle Natur sowie die menschliche Kultur. Das ist bislang nur ein Anspruch aber noch lange keine Lieferung.

Es gibt andere Sichtweisen, wie die, dass die Kultur und die Natur eine Art von Gegenüber, unvermittelbare Regionen darstellen. Wie der Mensch dabei beiden Regionen gleichzeitig angehören kann, bleibt darin ein unaufgelöstes Problem bzw. wird seltsamen Interpretationen unterworfen (z.B. der Mensch, das „exzentrische Tier“ oder das „unvollständige Tier“ oder „das unbestimmte Tier“ etc.) Diese Sichtweise lässt allerdings völlig offen, wie dieser Kontrast zwischen Kultur und Natur zu erklären oder zu überbrücken ist oder warum es überhaupt zu diesem Kontrast kommt.

Insgesamt bleibt die Fremdheit des Menschen gegenüber der Natur ein Rätsel, denn unbestreitbar ist, dass er ihr entstammt und ihr Teil ist. Unzählig sind die Versuche und Bestrebungen, zur Natur zurückzukehren, von den Stoikern bis zu den Hippies und der Ökobewegung, ohne dass das jemals geklappt hätte. Der Graben scheint unüberbrückbar. Warum, ist unklar. Was ist da los? Wir erleben die Kluft und fühlen die Sehnsucht zu ihrer Überwindung und zur Rückkehr zu einer Ursprünglichkeit, wie es schon Rousseau formuliert hatte. Aber wir ahnen und erfahren gleichzeitig, dass es eine Rückkehr zur reinen Natur für uns nicht gibt. Viele haben es versucht, und alle sind gescheitert. Einige haben ihr Leben daran gesetzt, wie David Henry Thoreau.

Das Verhältnis der Natur zur Kultur bleibt ungeklärt, und das stellt eine seltsame Lücke in der Selbstverständigung des Menschen über sein eigenes Dasein dar, und die Philosophie versagt bislang in dieser zentralen Angelegenheit.


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