Das Elend der Pädagogik

Ich beginne mit einem Zitat:

Man erkennt die Welt nicht, in dem man sie auswendig lernt.

Gebildet ist, wer ein Lexikon richtig aufschlagen kann. Oder, im Zeitalter der Elektronik, mit einem Computer intelligent umzugehen versteht. Das menschliche Gehirn existiert durch das Internet auch außerhalb unseres Kopfes. Es besteht also keine Notwendigkeit mehr, ihn mit Daten zu überfüttern. Die unsanfte Berieselung der Schüler mit Informationen erstickt nur die Neugier, lähmt die Fantasie, stumpf den Geist ab. Da Informationen noch dazu unverändert abrufbar bleiben müssen, wird ihre organische Verarbeitung, die psychische Um– und Einwandlung, systematisch blockiert.

Von allen Prüfungen verdient der Pisa-Test selbst die schlechtesten Noten. Statt auf die Zukunft, bereitet man die Schülerinnen und Schüler auf eine tote Vergangenheit vor. Es geht aber nicht mehr um das Erlernen alter Fertigkeiten, die der neue Sklavenstand der Maschinen ohnehin besser beherrscht. Es geht um ein anderes Verständnis der Welt und unseres Umgangs mit ihr.

Nicht Informationen an sich, sondern ihre immer neuen, immer größeren Verknüpfungen durch Vernunft und Fantasie sollten Ziel allen Lehrern sein. Die Schule der Vergangenheit ist ein Lagerhaus mechanischen Wissens, das an jede neue Generation zwangsverteilt wird. Die Schule der Zukunft wird eine Stätte der Bewusstseinserweiterung sein, der Inspiration und Transzendenz. Spirituelles Wachstum der Schüler ist ihre erste Aufgabe, ihr letzter Sinn.“

(Quelle: Lotte Ingrisch: Die neue Schmetterlingsschule oder die Rückkehr der Seele in den Unterricht, 2006)

Mehr daneben kann man nicht liegen. Um überhaupt denken zu können, muss ich verdammt viel wissen. Um mir ein Urteil bilden zu können, muss ich verdammt viel wissen. Um nicht von jedermann verarscht werden zu können, der mehr weiß als ich, muss ich viel wissen. Um ein Leben führen zu können, das die Prädikate aufgeklärt und kultiviert verdient, muss ich verdammt viel wissen.

Um überhaupt nur die Nachrichten zu kapieren oder mir ein politisches Urteil zu erlauben, muss ich wissen, was der Vermittlungsausschuss des Bundes für eine Funktion hat, wie der amerikanische Präsident gewählt wird, und wie viele Einwohner die Ukraine bzw. Russland hat. Wer nicht weiß, wie die Mondphasen entstehen, lebt wie ein Tier. Wer keine Kenntnis der Geschichte hat, wird schnell zum Opfer derer, die da meinen, man könnte die Uhr jederzeit auf Null stellen und den Neuen Menschen, die perfekte Gesellschaft am Reißbrett entwerfen. Und so geht das weiter ad infinitum.

Ich hatte vor einiger Zeit eine junge Nachhilfeschülerin in Mathematik, die mich irgendwann fragte, warum sie das alles (es war Algebra) überhaupt lernen solle. Ihr antwortete ich folgendes: Der Sinn, dass du Gleichungen lösen lernst, besteht nicht vorrangig darin, dass du es später anwenden wirst, außer du wirst Forscher oder Ingenieur, sondern dass du damit vertraut gemacht wirst, wie unsere Welt, unsere Kultur, das westliche Denken funktioniert und du dich darin heimisch fühlen kannst. Du lernst Mathematik und die Naturwissenschaften, damit dir PRINZIPIELL bewusst wird, auf welcher Basis dein Handy, ein Auto, dein Kühlschrank funktionieren. Und nicht, damit du dir einen Kühlschrank bauen kannst oder sollst.

Auswendiglernen ist das A und O jeder Bildung. Verdammt viel auswendig lernen. Natürlich gibt es jede Menge Zeug, das es nicht lohnt, auswendig gelernt zu werden, wie etwa die Genealogie der Päpste. Aber es gibt unendlich viel Wissensstoff, der es wert ist, gewusst zu werden.

Nur das was ich schon im Kopf habe, kann ich zum Denken benutzen. Nichts ist so blöd wie der Spruch: „Ich weiß, wo es steht“. Demnach müssten wir ja alle superschlau sein, da wir alle Wikipedia auf dem Smartphone mit uns herum tragen.

Ganz schlimm wird es, wenn im Zusammenhang mit „Bildung“ Schlagworte wie „Kreativität“, „Inspiration“, „Spirituelles Wachstum“ etc. fallen. Vollends das Ende erreicht ist mit dem Begriff „ganzheitlich“. Hier ist dann Hopfen und Malz verloren, und wir sind nicht mehr weit davon entfernt, den eigenen Namen zu tanzen für Bildung zu halten. „Kreativität“ erschöpft sich dann in der Praxis schnell in Graffitischmiererei in der Fußgängerunterführung.

Wer Klavier spielen will, der muss endlose Tonleitern und Etüden trainieren. Wer eine Fremdsprache beherrschen will, der muss Vokabeln pauken. Und Bildung bekommt man nur um den Preis, sich Wissen anzueignen, und das beinhaltet das Auswendiglernen von Fakten, seien es Jahreszahlen, Begriffsdefinitionen, Naturgesetze oder auch Gedichte.

Ginge es nach mir, ich würde die Pädagogik als Wissenschaft komplett vom Lehrplan streichen und sie durch eine „Lehre“ ersetzen. Gutes Unterrichten erlernt man durch praktisches Beispiel, und wer es dort nicht schafft, der hat an einer Schule nichts zu suchen.


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